Die Idee, auf kleinem Raum und trotzdem schick zu wohnen, ist nicht neu: In den 1950er-Jahren wohnte der Architekt Le Corbusier an der Côte d’Azur in einem Ferienhaus mit der Grundfläche von 13 Quadratmetern. Die eigentliche Tiny-House-Bewegung entstand zu Beginn des 21. Jahrhunderts in den USA und ist mittlerweile auch in der Schweiz angekommen. Doch wie lebt es sich mit wenig Wohnfläche? Und leisten diese kleinen Häuser wirklich einen Beitrag an eine nachhaltige Lebensweise? Darüber habe ich mich mit dem Schweizer Tiny-House-Pionier Kevin Rechsteiner unterhalten.
Wer Kevin Rechsteiner und sein Tiny House im zürcherischen Tösstal besuchen will, nimmt ab Zürich HB eine Stunde Reisezeit auf sich. Doch die Reise ist es wert. Kevin hat sich ein idyllisches Fleckchen Erde für seinen selbst umgebauten Zirkuswagen ausgesucht, auf einem Hof in unmittelbarer Nähe der Mündung der Töss in den Rhein. Auf seinem YouTube-Kanal hat der Zürcher den Umbau eines alten Zirkuswagens in ein wohnliches Heim umfassend dokumentiert. Seine Erfahrung hat er zudem in seinem grossen Praxisbuch «Tiny House» festgehalten. Das Resultat kann sich sehen lassen: Wenn man in den umgebauten Wagen eintritt, staunt man über den grosszügig wirkenden Raum, die hellen, wohnlichen Materialien, die grosse Küche. Ein Leben im Tiny House muss keineswegs beengt sein.
“Ich lebe bewusster im Tiny House, aber bin deswegen kein besserer Mensch”
Kevin, warum lebst du in einem Tiny House?
«Nach einer längeren USA-Reise in einem alten VW-Bus hatte ich mich an ein Leben mit wenig Raum und wenig Ausstattung gewöhnt. Nach meiner Rückkehr habe ich mich von Büchern, CDs und Möbeln befreit. Die bisherige Loft-Wohnung war für mich viel zu gross. Ich habe mir überlegt, wie stark ich meine Wohnfläche reduzieren und mich dabei immer noch wohl fühlen kann. Dabei entstand die Idee, in einem Tiny House zu wohnen. Das schien für mich die ideale Wohnumgebung zu sein.»
Bist du ein Minimalist?
«Nein, ich habe auch Freude an alten Sachen, zum Beispiel besitze ich mehrere Motorräder. Ich bin also nicht dogmatisch. Bei der Wohnfläche kann ich mich hingegen problemlos einschränken. Praktisch ist auch, dass ich mir so keine unnötigen Dinge anschaffe. Und so unmittelbar in der Natur zu wohnen, gibt mir viel mehr, als wenn ich in einer coolen Wohnung leben würde.»
Spielte das Thema Nachhaltigkeit eine Rolle bei deinem Entscheid, in einem Tiny House zu leben?
«Die Fragen rund um den Verbrauch von Ressourcen stellten sich bei mir erst während dem Bauprozess. Sie waren aber kein Auslöser für meinen Entscheid, in ein Tiny House zu ziehen. Beim Umbau des Wagens waren gute Lösungen gefragt. Ein WC verbraucht 15 Liter Wasser pro Spülung. So ist ein Wassertank schnell leer. Da machte es Sinn, nach Alternativen zu suchen. Auch beim Strom und bei der Isolierung ging es darum, möglichst wenig Energie zu verbrauchen. Heute stelle ich mir bewusster die Frage, wo und wie ich meinen Ressourcenverbrauch reduzieren kann. Aber deswegen bin ich kein besserer Mensch: Ich fahre weiterhin Auto oder Motorrad.»
Kevin Rechsteiner heizt mit Holz, verbraucht aber wenig Strom: etwa 2KWh pro Tag, was einem Drittel des üblichen Stromverbrauchs einer Person in einem Einfamilienhaus entspricht. Seit er in einem Tiny House lebt, hat sich Kevin intensiv mit Solarenergie und Akkus befasst. Er findet es spannend, wie er mit kleinen Veränderungen eine grosse Wirkung erzielen kann – ohne gleich sein ganzes Leben umkrempeln zu müssen. In diesem Prozess setzt er seine Faszination für Technik ein, er pröbelt herum und verbessert seine Energieeffizienz, um möglichst autark, also unabhängig, zu leben.
Hürden bei Bewilligungen sollen gesenkt werden
Der Weg zum eigenen Tiny House kann nicht nur technisch eine Herausforderung sein, sondern auch administrativ. Viele Gemeinden sind überfordert, wenn sich bei ihnen jemand als Einwohner*in in einem Zirkuswagen oder einem selbstgebauten Minihaus niederlassen will. Die Tiny Houses stehen auf privaten Wiesen oder Industriegeländen – also im Graubereich – und sind eher geduldet als bewilligt.
Dass künftig Tiny Houses vereinfacht bewilligt werden, dafür setzt sich der Verein Kleinwohnformen ein. Das Problem: Ein mobiles Haus braucht heute an vielen Orten die gleiche Baubewilligung, wie wenn ein herkömmliches Haus gebaut wird. Das führt zu einem unverhältnismässig grossen Aufwand und zu hohen Kosten, was viele Projekte schon in der Startphase scheitern lässt. Im Kanton Zürich wurde im August 2021 ein erster Schritt gemacht: Der Kantonsrat überwies der Regierung ein Postulat, in dem er fordert, die Hürden bei der Bewilligung von ökologischen Kleinwohnformen zu senken. Der Regierungsrat hat nun zwei Jahre Zeit, einen Bericht dazu zu erstellen.
Wie sieht es mit der Nachhaltigkeit aus?
Doch ist es überhaupt sinnvoll, die Bewilligung dieser Form des Wohnens zu vereinfachen oder sie gar zu fördern? Sind Tiny Houses nachhaltig? Diese Frage kann nicht einfach mit Ja oder Nein beantwortet werden, sondern fällt je nach Betrachtungsweise unterschiedlich aus:
- Heizung: Tiny Houses haben bezogen auf ihr Volumen eine grosse Hüllfläche, also Aussenfläche, die Wärme abgibt. Dies bedeutet, dass eine Kleinwohnform in der Regel deutlich mehr Energie verbraucht als ein gut gedämmtes Ein- oder Mehrfamilienhaus. Wenn ein Tiny House mit einer Solaranlage seinen eigenen Strom produziert und somit autark ist, dann spielt es aber keine grosse Rolle mehr, wenn fürs Heizen mehr Strom benötigt wird.
- Bodennutzung: Mehrgeschossige Wohnhäuser verbrauchen pro Kopf viel weniger Bodenfläche als Einfamilienhäuser oder Tiny Houses. Es kann somit nicht das Ziel sein, Mehrfamilienhäuser durch Tiny Houses zu ersetzen. Hingegen bieten sich Kleinwohnformen für Zwischennutzungen oder auch Verdichtungen in Siedlungsgebieten an.
- Baumaterial: In der Regel sind Tiny Houses aus Holz gebaut, während die meisten anderen Gebäude aus Beton bestehen. Während Holzbauten nicht nur klimaneutral, sondern sogar CO2-positiv sein können, ist die Herstellung von Zement, aus dem Beton angefertigt wird, weltweit für acht Prozent aller CO2-Emissionen verantwortlich.
- Wasserverbrauch: Hier können Kleinwohnformen gegenüber grösseren Bauten durchaus punkten. Da viele Tiny Houses über keinen Anschluss an die Kanalisation verfügen, haben sie eine Trockentoilette und sparen täglich rund 40 Liter Frischwasser pro Person. Kleinwohnformen, die die Nährstoffe aus der Komposttoilette zur Düngung und das wiederaufbereitete Abwasser zur Bewässerung im Garten nutzen, gewinnen dabei zusätzlich.
Es kommt somit immer darauf an, aus welchen Materialien ein Tiny House gebaut ist, wie seine Isolierung beschaffen ist, an welchem Standort und auf wie viel Fläche es steht, wie viel Wasser und Strom es benötigt und ob es den erforderlichen Strom mit einer eigenen Solaranlage produziert.
Grundsätzlich zeigen uns aber heutige Kleinwohnformen, welches Potential in der Reduktion auf das Wesentliche steckt. Ein gemütliches und modernes Zuhause ist auch mit wenig Fläche möglich. Und wer wenig Fläche zur Verfügung hat, schafft sich nur Dinge an, die er auch wirklich braucht. Kevin Rechsteiner sagt aus eigener Erfahrung: «Seit ich in einem Tiny House wohne, lebe ich bewusster: Wenn ich Auto fahre, wenn ich Strom brauche, wenn ich Kleider kaufe, weiss ich, dass die nötige Energie von irgendwo herkommt. Ich weiss, dass es immer verschiedene Optionen gibt und ich mich bewusst für oder gegen eine entscheiden kann.»